„Weiß man schon, was es wird?“ Diese Frage, die wohl alle werdenden Eltern hören, verrät viel über unser Verhältnis zum Thema Geschlecht: Obwohl jedes Kind anders ist, glauben wir es schon ein bisschen zu kennen, wenn wir sein Geschlecht wissen. Gerne vergleichen wir auch Kinder mit der Vorstellung, die wir von seinem Geschlecht haben, um festzustellen: „Ein typischer Junge!“ oder auch „Ungewöhnlich für ein Mädchen!“ In der geschlechtersensiblen Pädagogik wird versucht, sich diese Vorurteile und Klischees bewusst zu machen und die individuelle Entwicklung des Kindes zu fördern.
„Typisch Junge! Typisch Mädchen!“ Klischee oder Wahrheit?
„Typisch Junge“ – gibt es überhaupt klare Eigenschaften für ein Geschlecht bei Kindern? Auch wenn sich die Wissenschaften nicht ganz einig sind, wie viel geschlechtsspezifisches Verhalten angeboren und anerzogen ist, ist erwiesen: Es gibt keine grundlegenden Unterschiede zwischen dem, was Jungen und Mädchen tun und mögen, sondern höchstens graduelle Abweichungen. Das heißt im Klartext: Alle Kinder interessieren sich zum Beispiel für Bälle, Autos und Puppen. Aber der Durchschnitt aller Jungen interessiert sich etwas stärker für Autos, der Durchschnitt aller Mädchen mehr für Puppen. Für das einzelne Kind sagt das natürlich nichts aus. Denn auch innerhalb der Gruppe gibt es große Unterschiede. Einzelne Mädchen oder Jungen interessieren sich viel stärker für Bälle als ihre Geschlechtsgenoss:innen.
Erziehen wir Jungen und Mädchen unterschiedlich?
Geschlechtersensible Pädagogik bedeutet, dass die Erwachsenen versuchen, nicht aufgrund des Geschlechts Vorannahmen zu treffen, sondern offen für die individuellen Interessen des Kindes sind. Leichter gesagt als getan: Dass wir Jungen in manchen Punkten anders als Mädchen erziehen, ist uns aufgrund langer Prägung selten bewusst. Aber Forscher:innen wissen, dass Eltern mit Mädchen von Anfang an mehr sprechen und später häufiger an ihre Vernunft appellieren, während Jungen öfter zugestanden wird, zu rangeln und zu toben. Und obwohl man weiß, dass es Unsinn ist, werden Jungen immer noch öfter als Mädchen ermahnt, doch bitte nicht so viel zu weinen. Will man sein Kind geschlechtersensibel erziehen, sollte man sich immer wieder hinterfragen: Würde ich bei meinem Kind genauso handeln, wenn es nicht dieses Geschlecht hätte?
Ist es normal, dass mein Junge nur mit Puppen spielt?
Was ist, wenn ein Kind ganz anders als die landläufige Vorstellung von seinem Geschlecht ist? Etwa, wenn der dreijährige Junge viel lieber mit Puppen als mit Autos spielt oder das vierjährige Mädchen partout keine hübschen Kleidchen anziehen will? Moderne Eltern stört es meist nicht, wenn ihre Kinder vom Klischee abweichende Interessen zeigen, aber es gibt die Sorge: Wird mein Kind zum Außenseiter dadurch? Fachleute geben Entwarnung: Gerade Kinder unter vier interessiert es wenig, was für Jungen und Mädchen angeblich richtig ist. Sie wollen spielerisch alle Möglichkeiten ausprobieren, die das Leben bietet. Dazu gehört ganz selbstverständlich auch, alle Dinge zu tun, die andere Kinder machen. Also zum Beispiel auch als Junge mal ein Kleidchen zu tragen.
Warum mag mein Mädchen plötzlich nur noch rosa?
Auch den gegenteiligen Effekt kennen Eltern. Im Alter von vier, fünf Jahren werden viele Kinder geradezu zum Musterbeispiel für Geschlechterklischees! Da kann es vorkommen, dass ein vorher burschikoses Mädchen nur noch Rosa trägt und zum absoluten Eisprinzessin-Fan wird. Oder der Junge den roten Pulli gegen Camouflage-Look eintauscht und sich in der Kita mit anderen Jungen zur Rowdy-Truppe zusammenfindet. Erfahrene Pädagog:innen wissen: Dieses Verhalten ist für Vorschulkinder typisch und Ausdruck einer Entwicklungsaufgabe. Sie wollen in diesem Alter herausfinden: „Wer bin ich?“, auch in Bezug auf ihr Geschlecht. Und beim Finden ihrer Rolle neigen viele Kinder dazu, erst einmal alles etwas zu übertreiben und sich Klischees hinzugeben, um zu spüren: Ich bin jetzt voll und ganz Junge – oder Mädchen. Anderen behagt diese vorgegebene Rolle gar nicht, und es wird Teil ihres Lebensgefühls, selbstbewusst dagegen zu halten: Ich bin ich – und mag als Mädchen weiterhin meinen angeblichen „Jungskram“. Gut, dass es so selbstbewusste Kinder gibt!
Wie begleite ich mein Kind geschlechtersensibel bei der Suche nach seiner Rolle?
Eine einfache Faustregel lautet: Weder drängen noch von etwas abbringen. Zeigen Sie Ihrem Kind lieber alle Möglichkeiten auf! Beobachten Sie, wofür es sich selber interessiert. Und vermitteln Sie ihm: Ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, sollte es nie davon abhalten, bestimmte Interessen auszutesten. Eine große Rolle spielen dabei Spielzeuge und Bücher. So sollten Eltern bei Kinderbüchern eine gute Auswahl treffen. Darin sollten nicht nur starke Jungs oder zarte Mädchen vorkommen, sondern auch sensible Kerlchen und mutige Gören. Bei den Spielsachen ist es gut, nicht nach Mädchen- oder Jungenspielzeug zu schauen. Schenken Sie Dinge, die alle Kinder interessieren. Zum Beispiel Küchenutensilien und Arztkoffer für Rollenspiele oder Memo-Spiele zum Spielen nach Regeln. Und falls Ihr Sohn ein Einhorn-T-Shirt tragen oder Ihr Mädchen mit dem Werkzeugkoffer spielen will: Unterstützen Sie Ihr Kind bei seiner Neugier. Zuletzt gehört es zur geschlechtssensiblen Erziehung auch dazu, seine eigene Rolle als Mutter oder Vater sichtbar vorzuleben. Sprechen Sie mit Ihrem Kind darüber, wie es bei Ihnen ist – wo entsprechen Sie dem Klischee, wo nicht? Wie war das, als Sie ein Kind waren?
Dies ist ein Artikel unseres Gastautors Michael Fink. Er ist als Dozent in der Fort- und Weiterbildung von Erzieher:innen und Lehrer:innen tätig, Mitbegründer einer pädagogischen Fachzeitschrift und Autor von über 50 pädagogischen Fachbüchern.